#5 Horst

Blödes Blogbuch,

eines Morgens stand er unverzüglich auf, ging ins Badezimmer und nahm seinen Bart ab. Erschreckend, was er im Spiegel sah: Nacktmullenartig sein Kinn, hohlhorstig der Ausdruck und blödbackig der Rest. Mann, bist du verbraucht. Hinter der Bartmaske kann Mann sich nicht mehr verstecken. Midlife- Crisis flamme auf, bartloses Wesen, wie beschissen kann Mann aussehen? Was ist nur geschehen, um eine solch fundamentale Veränderung zu vollziehen? Reiner, kommst du klar in deiner kleinen, verstörten Welt? Aber der Reihe nach…

Alles fing mit Horst an.

Nein, eigentlich fing es mit diesem Dokument im HTML- Format an, welches durch Browser im Internet aufrufbar ist. Es ging um das Missbrauchen und Quälen mit Worten. Das Ausprobieren. Das Balancieren am Abgrund, dabei mit Ironie und Stumpfsinn zu jonglieren, während der Therapiesitzung, die ich mir des öfteren selbst verordne. An der nur (R)einer teilnimmt.

Immer dann, wenn ich das Gefühl habe, den lieben langen Tag nur zu koten. Im übertragenen Sinne, versteht sich.

Jedenfalls hab ich da, glaub ich, eine Grenze überschritten. Nicht mit dem Quatsch, den ich textlich niederreihere, da bin ich noch echt zurückhaltend, ja geradezu schüchtern (fühle mich beobachtet; von mir selbst; macht mir Angst).

Ich experimentiere auch mit anderen Dingen: Lebenden Dingen, zu Test- Zwecken. Imaginäre Personen dürfen das nämlich und kommen nicht in die Irrenanstalt, hoffe ich jedenfalls. Zwangsjacken sind eher was für Kinder ohne Grenzen, aber das ist eine ganz andere Geschichte. Und die Polizei steht morgen auch bestimmt nicht vor meiner Haustür. Alles nur eine reine Kopfgeburt. So wird es sein…

Ich halte mir einen Horst.

Horst Hodenkopf, wie er vollständig heißt. Er ist Frührentner und ich verwende ihn hauptsächlich zum Schritte zählen. Meine Schritte, während ich laufe. Horst ist mein (mehr oder weniger) lebendiger Pedometer. Das ist zweckmäßig, wie ich zugebe, jedoch überwiegt meine Neugier, um mehr über diese Spezies herauszufinden.

Horst ist unter seinesgleichen ein totaler Außenseiter (kein Reiner), wie ich feststellen musste. Er ist charakterlich nicht einwandfrei, ein überhebliches Arschloch. Warum er sich so verhält, kann ich bei bestem Willen nicht sagen, im Grunde genommen ist er ein kleines Häufchen Elend und das weiß er selbst.

Ich kann auch nicht weiter recherchieren, was im Nachhinein ziemlich schade ist. Hätte gerne eine Fallstudie gemacht, aber Horst ist mir viel zu horstig. Am horstigsten sein Hodenkopf. Der Umgang mit ihm ist deprimierend. Er zieht mich auf Dauer runter und das kann ich zur Zeit nicht gebrauchen.

Die anderen grauen Alten wollen auch nichts mit Horst zu tun haben. Wahrscheinlich aus den gleichen Gründen. Aber so leicht gab ich nicht auf:

Aus Forschungszwecken probierte ich ein Treffen mit den grauen Alten, Horst und mir zu arrangieren, um an die Hinterrentner und gegebenenfalls sogar an den Oberrentner heran zu kommen.  Horst sollte als Mittelsmann fungieren. Aber keine Chance. Nicht einmal einen Grinser konnten wir anlocken.

Habe es auch mit Kuchen- Ködern und einem fingierten Schnäppchen- Alarm im Sanitätshaus versucht. Auch das Herbeilocken mit echten Rabattmarken war ein Misserfolg. Sie meiden Horst wie einen stinkenden Hundehaufen. Als ob die grauen Alten ihn bereits von Weitem riechen (mit künstlichen Riechgelenken). Ähnlich das Verhalten auch im Tierreich, wo sich kranke und gesunde Artgenossen aus dem Weg gehen. Eine Art Rentner- Überlebensinstinkt, wie ich vermute.

Die grauen Alten sind zwar älter als Horst, aber auch rüstiger. Das bemerkte ich schon beim Einfangen.

Die rüstigen Rentner waren einfach zu wendig und agil. Habe es nicht geschafft sie mit dem Lasso einzufangen. Horst dagegen ist einfach gestrickt, das Einfangen stellte bei ihm kein Problem dar. Auch ohne Lasso. Brauchte nur mit einer Whiskeyflasche zu wedeln und schon kam er angedackelt. Konnte mich dann direkt auf ihn werfen, nachdem er mit der Whiskeyflasche eins von mir über die Halbglatze bekommen hat.

Jede Bewegungen von Horst, eine Qual. Ich musste ihn ordentlich einreiten, wobei er sich etwas sträubte. Horst hat RÜCKEN, darum gab er schnell auf und ich hatte am Ende leichtes Spiel.

Nachdem ich ihn dann schon einmal gezähmt hatte, war es nur folgerichtig und konsequent ihn auch zu benutzen, denn fiktive Personen, wie ich es eine bin, neigen zu einem extravaganten Lebensstil. Und wenn sich einem die Möglichkeit bietet, einen Horst zu halten (als Schrittzähler oder für andere bedeutende Funktionen), sollte man die Möglichkeit auch nutzen. Sonst muss man am Ende noch selbst zählen.

Als umfangreicher Fitness- Tracker allerdings, taugt Horst nicht. Er hat zwar Zeit und keine Freunde, auch die Bewegung ist nicht verkehrt, doch ist er stark übergewichtig und komplett überfordert. Mit allem. Die Knie sind kaputt und er ist schwerbeschädigt. Überall. Darum laufe ich auch nicht mehr ganz um den Block, sondern Halbmarathon. Da muss er durch, der Horst.

Bisher macht er sich sehr schlecht, der Horst.

Nur mit seinem Vornamen protzen, ist auf Dauer zu wenig. Klar, finanziell geht es ihm prächtig, als ehemaliger Staatsdiener im gehobenen Dienst. Er kann sich vergoldetes Klopapier kaufen, oder kräftig einen saufen (so richtig Horst– like). Liebe und Zuneigung kann man leider nicht erwirtschaften, betrachtet man das ganze auf romantischer Ebene. Und es gilt das Prinzip:

Bringst du keine Leistung, wirst du nicht mehr gebraucht.

Horst möchte aber gebraucht werden, sonst ist er frustriert. Totale Zwickmühle. Armes Würstchen, der Horst.

Hab ihn seit dem Unwetter nicht mehr gesehen, den Horst. Dem Unwetter, bei dem ich vom Donner getroffen worden bin. Da hab ich ihn wohl im Regen stehen lassen und nicht eingesammelt. Hatte zu dem Zeitpunkt auch anderes im Kopf, weitaus wichtigeres. Keinen Horst jedenfalls. Er soll wohl eine üble Lungenentzündung entwickelt haben, sagten die aus dem Krankenhaus am Telefon. Persönlich hat er sich bei mir nicht gemeldet, obwohl er so gerne telefoniert. Wenigstens eine ordentliche Krankmeldung hätte er einreichen können. So nicht, Horst. Einfach krank machen ist keine Lösung, damit machst du dich nur zum Voll- Horst, Horst!

Ein bisschen Sorgen mache ich mir schon, bin ja kein Viehtreiber.

Darum bin ich nun bartlos unterwegs, aus Solidarität, zu Horst. Nur die  goldene Brille (Modell: Zuhälter) setze ich mir nicht auf die Nase.

Und dann verschmelzen wir zwei imaginär zu einem armen Würstchen.

Reiner ist jetzt Horst. Sonst ändert sich nix

Es ist wohl das Schicksal jedes geheimen Außenseiter- Mutanten, im Grunde nur ein Horst zu sein. Und alle anderen sind fein raus.

 

 Diesen Eintrag widme ich Horst.