14. Zurück auf dem Boden der Tatsachen
Zuhause angekommen, denk ich, könnten wir uns im Sportwettenmafiagewerbe versuchen. Wir bräuchten lediglich einen gültigen Gewerbeschein. Mit Hilfe der Fähigkeiten meines Freundes würden wir es sicherlich weit bringen. Oder wir treten in unserer eigenen Show auf. Wir wären so etwas wie Zirkusattraktionen, abnorme Missbildungen die mit der normalen Gesellschaft koexistieren. Dicke Pickel wären wir, auf der Stirn der anständigen Normalverbraucher, die wir dann abkassieren würden. Und das mit Nachdruck. Dafür bräuchten wir Künstlernamen, wie:
Cha- Ka Dance & the most spectacular outsider in the universe, oder le spectacle avec l’outsider et BaBa Ball.
Natürlich müssten die Künstlernamen nach etwas Großem klingen, international. Man will ja nicht zu niedrig stapeln und nur auf nationaler Ebene abfloppen.
Ich könnte auch einfach nur auf dem Sofa flennen, mit dem Ball, bei einem traurigen Film. Zeit miteinander verbringen, schweigend, nebeneinander, miteinander, übereinander, ineinander verhakt, vereint. Unbekümmert voller Naivität, Sentimentalität, Spontaneität. Sackhüpfen im Supermarkt, Gemüsewerfen im Gefängnis, radeln mit nem Auto, sitzen auf der Stehlampe, tauchen im Erfolg, tanzen im Regen, in Glückseeligkeit. Zu zweit mit der Familie, als Teil der Familie. Wir müssen hier lediglich raus, raus aus diesem Humbug, raus aus meinem Kopf. Der Ball und ich, eine einzige Erfolgsstory…
Fresse jetzt, wir müssen weiter, ich muss dich unbedingt wem vorstellen.
Erst jetzt bemerke ich, dass wir mitten auf dem Boden der Tatsachen stehen, ziemlich niederschmetternd. Der Ball hat mich dorthin zurückgebracht und trotzdem scheint es mir als wäre ich nie da gewesen. Jedenfalls nicht das ich wüsste. Aber was weiß ich schon?
Auf dem Boden liegen überall Tatsachen herum. Große Tatsachen, kleine Tatsachen, verpackte Tatsachen, verschleierte Tatsachen, übelriechende Tatsachen und einfach nur erschütternde Tatsachen. Tatsachen für den kleinen Gebrauch, Tatsachen für den großen Verbrauch, Vorratstatsachen um genau zu sein. Tatsachen für Jedermann, Tatsachen für niemand..!
Der Ball rollt genau in dem Augenblick auf eine besonders schöne Tatsache für Jedermann zu, als der Boden plötzlich zu sprechen anfängt. Nicht laut, aber bestimmt:
Find dich damit ab, genau so ist es, So und nicht anders!
Während der Ball fast an seinem Ziel angekommen ist, kann ich die Tatsachen nicht mehr leugnen, zu offensichtlich weilen sie vor meinen Augen. Zu erdrückend ihre Existenz. Der Boden der Tatsachen ist kein Ponyhof.
Ich schaue weg, sehe dunkle Gestalten, die sich durch noch dunklere Gassen schleichen. Brennende Vögel erhellen beim Vorbeifliegen ein wenig das Szenario. Ich erhasche dabei einen Blick in das Gesicht einer dieser Gestalten. Sie grinst geheimnisvoll, die Augen funkeln, ein mordlüsterndes Funkeln. Pechschwarze Gedanken kreisen um mich herum. Eine Stimme ertönt. Sie kommt aus einer Tatsache: Das Radio als Medium ist nicht kleinzukriegen. Es erfreut sich vorallem bei der älteren Bevölkerung großer Beliebtheit.
Und nun der Verkehrsfunk: Leichte Verkehrsbehinderung stadtauswärts zwischen Schlagmichtot und Vollegal. Auf dem Stadtring hat es geknallt aufgrund eines Atombombenfundes bei Instandsetzungsarbeiten, dort nur schleppender und zähflüssiger Verkehr. Bitte die Unfallstelle weiträumig umfahren. 20 Minuten länger braucht ihr auf der K 21 bei Deppendorf, Grund hierfür: Dorfdeppen, welche sich auf offener Straße mit der Deppendorfer Dorfjugend auf eine Debatte über Sinn und Unsinn der Dorfjugendlichen Deppenkultur, einließen. Ansonsten überall freie Fahrt, lassen sie sich nicht unterkriegen!
Wirklich unwirklich kommt mir all dies vor, all dies, was ich erlebt habe, was ich erlebe. Ich lebe und bin noch immer auf dem Boden der Tatsachen. Musik läuft inzwischen: Es ist Blues, für all die seelisch zerrissenen, lasst euch von all den Wirrungen nicht irren!
Dann ist es ruhig. Es kommt mir irgendwie ziemlich frisch vor, Luft weht mir ins Gesicht. Ich liege auf etwas, auf einer Tatsache, eine erschütternde Tatsache. Dance liegt direkt neben mir. Er kontrolliert die Tatsache, das ist Tatsache. Diese Tatsache handelt von Millionen geschundener Seelen, welche existieren, ohne Balsam zu erhalten und so langsam kaputt gehen, mitsamt ihren Besitzern.
Wir fahren auf der Tatsache über den trockenen, asphaltierten Boden, fahren schnell. Rasen durch die dunklen Gassen, an den dunklen Gestalten vorbei, über uns: Brennende Vögel. Mit einem Mordstempo jagen wir durch die dunkle Nacht. Keine Ahnung wohin, der Steuermann wird’s schon wissen. Er wird mich führen, wohin auch immer.
Plötzlich halten wir an, direkt vor einem herunter gekommenen Haus. Fast schon einer Ruine. Der Putz blättert sich von den grauen Außenwänden ab. Risse in der Fassade zeugen vom Zerfall. Ein riesiges giftgrünes Tor, welches auch schon bessere Tage hinter sich hat, lädt nicht gerade zum Eintreten ein. Auf einem mittig auf dem Tor platzierten rostigen Schild steht von Kinderhand geschrieben:
-der Wind, der Wind, der tatsächlich um den Boden wehende Wind-
Ich erkenne meine Schrift wieder. Das ist keine Kinderschrift, das ist meine Schrift. Keine Erinnerung in mir, in meinem Kopf, welche davon handeln könnte, dieses Schild beschrieben zu haben. Allein der Gedanke lässt mich schaudern.
Was geht hier vor?
Frage ich mehr das rostige Schild als den blau- weiß gestreiften Plastikball. Dieser erwidert:
Das hast du geschrieben, als du noch in Nimmerland lebtest und dich Peter Pan nanntest.
Ich bin perplex.
„Ach Quatsch, du glaubst aber auch alles, oder? Das Schild existiert nicht, genauso wenig wie dein Heldenkostüm existiert oder ein lebender, sprechender Plastikball namens Dance, der Dinge mit seiner Psyche steuern kann. Du bist auch kein Zebra. Humbug, alles völliger Blödsinn. Du bist einfach nur viel zu zugedröhnt um klare Gedanken fassen zu können. Langsam hab ich sogar das Gefühl, einen Dauerzustand zu erkennen, du scheinst hängen geblieben zu sein, auf was auch immer. Du siehst gar nicht gut aus, kotz mir bloß nicht diese Tatsache hier voll“ , der nicht vorhandene Plastikball zeigt mit seinem nicht vorhandenen Arm, des rechten Zeigefingers der nichtvorhandenen Hand auf die erschütternde Tatsache. Ein leichtes Schmunzeln huscht über mein Gesicht.
Peter Pan, der war gut.
Die grüne Gittertür öffnet sich ohne Fremdeinwirkung. Wir schreiten hinein (dem Ball müssen komischerweise Weise auch Beine und Füße gewachsen sein, welche ihm jedoch ohne Frage gut zu –Arsch– Gesicht stehen). Ein langer stockdusterer Gang, indem es nach altem Fisch stinkt, führt bis zu einem hochmodernen Fahrstuhl, welcher aufgrund seiner Umgebung am falschen Platz zu sein scheint. So wie einige andere auch in dieser bescheuerten Geschichte. Wir besteigen gemeinsam das Technische Monstrum.
Drück mal die oberste Taste, Außenseiter!
Ich schaue mir die oberste Taste genau an, es ist eine ‚7‘, drücke sie und prompt setzen wir uns in Bewegung. Fahrstuhlmusik ertönt. Keine gewöhnliche, eher meisterhafte leider urheberrechtlich geschützte. Die Melodie einer Flöte, die Harmonie des Gesanges, mal allein, mal im Duett. Ein sich als Kontrabass tarnender E- Bass, eine Klarinette und eine E- Gitarre. Dazu jede Menge Sanftheit, welche zum Nachdenken anregt, Melancholie umhüllt mich. Melancholie erdrückt mich, ich schnappe nach Luft und lausche dabei der Musik.
Ruckartig stoppt der Fahrstuhl, die Musik verstummt. Die Tür geht auf und ein orkanartiger Orkan bläst mir entgegen. Ich muss mich mit all meiner Kraft und beiden Händen an dem Rahmen der automatisch geöffneten Türen aus geriffeltem Aluminium festhalten, um nicht gegen die Wand im Innern des Fahrstuhls geschleudert zu werden, kann mich schließlich nicht mehr halten und knalle unter starken Schmerzen gegen eben jene, beschissene Wand. Der Ball macht das geschickter, er benutzt mich als Puffer.
Was ist hier los, verdammte Scheiße!?
Auf meine Frage antwortet niemand. Schließlich flüstert mir doch der Wind etwas ins Ohr, während ich regungslos, da nicht im Stande mich zu bewegen, an der blöden Wand klebe, etwa einen Meter über dem Fußboden.
Hallo, du bist also der Außenseiter, von dem im ganzen Land berichtet wird. Ich hoffe du hast einen Augenblick Zeit.
Der Ball mischt sich hastig, dennoch mit vorbildlicher Betonung seiner Wörter, ein:
Ja, Dr. Wirbelwind, das ist er, therapieren sie ihn bitte, aber schnell. Er driftet immer mehr ab, wird immer realitätsferner. Ich mache mir wirklich Sorgen.
Ein kleiner aber heftiger Wirbelsturm wirbelt uns umher, dabei entdecke ich inmitten des wirbelnden Stürmchens eine Menge wirbelloser Tierchen, denen das gleiche Schicksal ereilt. Dann wirbelt er weiter, ohne uns, wir kleben wieder wie angewurzelt an der Scheißwand. Machtlos, ohne Kontrolle, was vor allem Dance ärgern dürfte.
“Dich habe ich nicht gefragt, Ball aus Plastik, der nicht blasen kann. Vielleicht bist du mächtig, aber in mir wirst du immer einen Meister finden, also reiz mich nicht”, flüstert erstaunlich sanft der Wind.
Ich schaffe es meinen Kopf etwas nach unten zu bewegen und kreische in einem Tempo, welches ich mir nie zugetraut hätte:
Lass meinen Freund in Ruhe, sonst kack ich flitzeschnell in den Fahrstuhl, dann geht es uns allen ganz schön beschissen.
Nichts passiert, Dance ergreift langsam aber bestimmt das Wort: “Dr. Wirbelwind, bei allem Respekt, ich werde sofort Ruhe geben, vorher sollten wir ihrem Patienten noch erklären, dass sie von den Lippen ablesen, da sie taub sind. Sonst kommt es noch zu Missverständen”
Sanft und entschieden flüstert Dr. Wirbelwind: “Wohl wahr! Es ist unbegreiflich, als ich noch ein kleines Tropenlüftchen war, bekam ich die Windpocken. Diese gingen vorüber, mein Gehör mit ihnen. Aber zum Glück bin ich ein begnadeter Lippenableser. So jetzt aber schnell, ich habe noch andere Termine. Ich sage im vornherein, meine Methoden sind unter der Gemeinschaft gemeinnützlicher und/ oder gemeiner Psychologen umstritten, sowie bei der Initiative >>Psychologen statt Kriegsmaschinerie<<. Besitze ich doch etliche Handfeuerwaffen. Bin ein Narr, ein Narr, ein Narr. Ein psychopathischer Psychologe sozusagen. Meine Fachgebiete sind Erschöpfungszustände verursacht durch Stress sowie Drogerieartikelproblematiken in Verbindung mit Psychosen oder einfach nur die gute, alte Depression. Ein Hirngespinst des 21. Jahrhunderts. Ich denke da bin ich bei ihnen genau richtig.”
Der Wind hält kurz inne und flüstert weiter:
Ich werde jetzt verschwinden für kurze Zeit, lass dich einfach überraschen!
In Windeseile falle ich auf den Boden, winde mich dort kurz vor Schmerz und beginne etwas übertrieben zu wehklagen. Kein Lüftchen mehr zu spüren, welches vor sich hin weht. Der Ball hüpft noch einige Male bis er am Boden liegen bleibt. Es ist dunkel, trotzdem kann man erstaunlich viel erkennen. Wir treten aus dem Fahrstuhl, der scheinbar am Ziel angelangt ist.
Über uns ist der dunkle Nachthimmel, Tausend glitzernde Sterne, ich sehe eine Sternschnuppe. Sie erlischt leider viel zu schnell. Ein kurzes letztes Aufleuchten und weiterschweben, weiter fallen ohne Licht, ohne Bezug, mit den Augen nicht mehr zu erkennen. Aber zu erahnen. Dunkelheit. Der Mond, sichelförmig und matt scheinend. Vor uns ein vor sich hin fließender Fluss, schwarz, die Sterne spiegeln sich auf der Oberfläche, es schimmert, glitzert. Ein wehmütiger Anblick. An dem Fluss unzählige Trauerweiden, ihren Schmuck einfach nur nach unten hängend, da ja kein Wind weht, verlieren sie sich, in sich gekehrt, in ihrer traumhaften Umgebung.