Fünfzehn

 

14. Zurück auf dem Boden der Tatsachen

 

Zuhause angekommen, denk ich, könnten wir uns im Sportwettenmafiagewerbe versuchen. Wir bräuchten lediglich einen gültigen Gewerbeschein. Mit Hilfe der Fähigkeiten meines Freundes würden wir es sicherlich weit bringen. Oder wir treten in unserer eigenen Show auf. Wir wären so etwas wie Zirkusattraktionen, abnorme Missbildungen die mit der normalen Gesellschaft koexistieren. Dicke Pickel wären wir, auf der Stirn der anständigen Normalverbraucher, die wir dann abkassieren würden. Und das mit Nachdruck. Dafür bräuchten wir Künstlernamen, wie:

Cha- Ka Dance & the most spectacular outsider in the universe, oder le spectacle avec l’outsider et BaBa Ball.

Natürlich müssten die Künstlernamen nach etwas Großem klingen, international. Man will ja nicht zu niedrig stapeln und nur auf nationaler Ebene abfloppen.

Ich könnte auch einfach nur auf dem Sofa flennen, mit dem Ball, bei einem traurigen Film. Zeit miteinander verbringen, schweigend, nebeneinander, miteinander, übereinander, ineinander verhakt, vereint. Unbekümmert voller Naivität, Sentimentalität, Spontaneität. Sackhüpfen im Supermarkt, Gemüsewerfen im Gefängnis, radeln mit nem Auto, sitzen auf der Stehlampe, tauchen im Erfolg, tanzen im Regen, in Glückseeligkeit. Zu zweit mit der Familie, als Teil der Familie. Wir müssen hier lediglich raus, raus aus diesem Humbug, raus aus meinem Kopf. Der Ball und ich, eine einzige Erfolgsstory…    

Fresse jetzt, wir müssen weiter, ich muss dich unbedingt wem vorstellen.

Erst jetzt bemerke ich, dass wir mitten auf dem Boden der Tatsachen stehen, ziemlich niederschmetternd. Der Ball hat mich dorthin zurückgebracht und trotzdem scheint es mir als wäre ich nie da gewesen. Jedenfalls nicht das ich wüsste. Aber was weiß ich schon?

Auf dem Boden liegen überall Tatsachen herum. Große Tatsachen, kleine Tatsachen, verpackte Tatsachen, verschleierte Tatsachen, übelriechende Tatsachen und einfach nur erschütternde Tatsachen. Tatsachen für den kleinen Gebrauch, Tatsachen für den großen Verbrauch, Vorratstatsachen um genau zu sein. Tatsachen für Jedermann, Tatsachen für niemand..!

Der Ball rollt genau in dem Augenblick auf eine besonders schöne Tatsache für Jedermann zu, als der Boden plötzlich zu sprechen anfängt. Nicht laut, aber bestimmt:

Find dich damit ab, genau so ist es, So und nicht anders!

Während der Ball fast an seinem Ziel angekommen ist, kann ich die Tatsachen nicht mehr leugnen, zu offensichtlich weilen sie vor meinen Augen. Zu erdrückend ihre Existenz. Der Boden der Tatsachen ist kein Ponyhof.

Ich schaue weg, sehe dunkle Gestalten, die sich durch noch dunklere Gassen schleichen. Brennende Vögel erhellen beim Vorbeifliegen ein wenig das Szenario. Ich erhasche dabei einen Blick in das Gesicht einer dieser Gestalten. Sie grinst geheimnisvoll, die Augen funkeln, ein mordlüsterndes Funkeln.  Pechschwarze Gedanken kreisen um mich herum. Eine Stimme ertönt. Sie kommt aus einer Tatsache: Das Radio als Medium ist nicht kleinzukriegen. Es erfreut sich vorallem bei der älteren Bevölkerung großer Beliebtheit.

Und nun der Verkehrsfunk: Leichte Verkehrsbehinderung stadtauswärts zwischen Schlagmichtot und Vollegal. Auf dem Stadtring hat es geknallt aufgrund eines Atombombenfundes bei Instandsetzungsarbeiten, dort nur schleppender und zähflüssiger Verkehr. Bitte die Unfallstelle weiträumig umfahren. 20 Minuten länger braucht ihr auf der K 21 bei Deppendorf, Grund hierfür: Dorfdeppen, welche sich auf offener Straße mit der Deppendorfer Dorfjugend auf eine Debatte über Sinn und Unsinn der Dorfjugendlichen Deppenkultur, einließen. Ansonsten überall freie Fahrt, lassen sie sich nicht unterkriegen!

Wirklich unwirklich kommt mir all dies vor, all dies, was ich erlebt habe, was ich erlebe. Ich lebe und bin noch immer auf dem Boden der Tatsachen. Musik läuft inzwischen: Es ist Blues, für all die seelisch zerrissenen, lasst euch von all den Wirrungen nicht irren!

Dann ist es ruhig. Es kommt mir irgendwie ziemlich frisch vor, Luft weht mir ins Gesicht. Ich liege auf etwas, auf einer Tatsache, eine erschütternde Tatsache. Dance liegt direkt neben mir. Er kontrolliert die Tatsache, das ist Tatsache. Diese Tatsache handelt von Millionen geschundener Seelen, welche existieren, ohne Balsam zu erhalten und so langsam kaputt gehen, mitsamt ihren Besitzern.

Wir fahren auf der Tatsache über den trockenen, asphaltierten Boden, fahren schnell. Rasen durch die dunklen Gassen, an den dunklen Gestalten vorbei, über uns: Brennende Vögel. Mit einem Mordstempo jagen wir durch die dunkle Nacht. Keine Ahnung wohin, der Steuermann wird’s schon wissen. Er wird mich führen, wohin auch immer.

Plötzlich halten wir an, direkt vor einem herunter gekommenen Haus. Fast schon einer Ruine. Der Putz blättert sich von den grauen Außenwänden ab. Risse in der Fassade zeugen vom Zerfall. Ein riesiges giftgrünes Tor, welches auch schon bessere Tage hinter sich hat, lädt nicht gerade zum Eintreten ein. Auf einem mittig auf dem Tor platzierten rostigen Schild steht von Kinderhand geschrieben:

-der Wind, der Wind, der tatsächlich um den Boden wehende Wind-

Ich erkenne meine Schrift wieder. Das ist keine Kinderschrift, das ist meine Schrift. Keine Erinnerung in mir, in meinem Kopf, welche davon handeln könnte, dieses Schild beschrieben zu haben. Allein der Gedanke lässt mich schaudern.

Was geht hier vor?

Frage ich mehr das rostige Schild als den blau- weiß gestreiften Plastikball. Dieser erwidert:

Das hast du geschrieben, als du noch in Nimmerland lebtest und dich Peter Pan nanntest.

Ich bin perplex.